Montag, 23. Oktober 2017

clean eating

Heute habe ich mir die Freiheit genommen, an die frische Luft zu gehen. Nicht einen weiteren Nachmittag meinen Körper am Schreibtisch zu disziplinieren, meinen Arsch mit dem Sessel verwurzelt zu sehen, meine Lebenslust hinters Glas zu verfrachten und in die Tastatur zu hämmern, als wäre es das wichtigste, unausweichlich. Ich hab mich vom beschäftigten Tun losgerissen, als wäre es sowieso normal (es ist normal).
Ich ging ins Waldstück unweit von meiner Wohnung, Gestrüpp, Laubbäume, Tannen, Felder und Rasenfläche, Blumen und Hecken, vereinzelte Obstbäume, kaum Bänke, asphaltierte und eingetretene Pfade, eigentlich ist es eine Mischung aus Park und Wald. Ich blieb an einem ungestutzten Strauch stehen. Ich fing an die kleinen Dornen abzureißen. Ich riss und sammelte bis meine Jackentaschen bis zum Rand voll wurden, bis wirklich kein einziger Dorn mehr reinpassen könnte. Es wäre sonst enttäuschend, in die Wohnung zurückzugehen, im Wissen, meine Jackentaschen nicht maximal ausgefüllt zu haben. Meine Jackentaschen waren also >randvoll<. Die äußere Kälte war jedoch so scharf, dass ich meine Hände in die Jackentaschen pressen musste, zwischen die kleinen, harten Dornen. (Handschuhe hatte ich wie üblich vergessen, ob aus Absicht oder nicht, war mir zu diesem Zeitpunkt egal.) 
Zurück in meiner Wohnung, zog ich vorsichtig meine angefrorenen, zerschnittenen Hände aus den Jackentaschen, vorsichtig, weil die Dornen nicht direkt auf den Boden fallen sollten. Vorsichtig legte ich die Dornen auf dem Tisch hin. Es war mein Schreibtisch, der im Wohnzimmer stand (Wohnzimmer und Küche waren ein Raum in meiner Wohnung). Den Schreibtisch nutzte ich eher als Esstisch, eigentlich habe ich noch nie auf ihm geschrieben. Ich legte alle Dornen auf, nah nebeneinander. Dann nahm ich einen Dorn und steckte ihn in meinen Mund, begann ihn zu kauen. Dorn für Dorn nahm ich in den Mund, die Speichelproduktion steigerte sich mit jedem Bissen. Einige Stückchen verfingen sich in meinem Zahnfleisch, andere kratzten meine Mundhöhle auf, und die meisten schnitten meinen Gaumen. Mein Gaumen stach wie verätzt, als ich versuchte die zerkauten Dornen zu schlucken, also nahm ich ein Glas Leitungswasser, das Runterwürgen wurde schmerzfreier.
Während des Essens schaute ich genau auf die Uhr, ich konnte meinen Blick nicht von der Uhr abwenden. So weisz ich, dass ich eine geschlagene Stunde gebraucht habe, um die gesammelten Dornen ganz aufzuessen. Am nächsten Tag entschied ich mich dasselbe zu essen. Ich würde auf diese Weise viele Ressourcen sparen (Wasser, Strom, Gewürze, Zeit, nicht nur die Kochzeit, sondern auch die Zeit zum Verdauen, die fand ich am nervigsten). Am übernächsten Tag entschied ich mich dasselbe zu essen. Bis zum Ende der Woche aß ich nichts anderes mehr.
Am Dienstag erhielt ich Besuch, völlig unerwartet. Ich hatte gerade eben gegessen und war sehr voll. Ich wurde trotzdem zittrig vor Freude. (War es Freude?) Ich konnte ihm aber nichts zum Essen anbieten, dabei wollte er ohnehin nichts essen. Er hatte schon genug gegessen, versicherte er mir (er sagte es nicht, aber die Art, wie er sich mit mir unterhielt, zeigte es eindeutig). Da ich mehrere Tage in Folge Dornen gegessen hatte, war es klar, dass meine Küsse merkwürdig schmecken würden (wir küssten uns nicht zum ersten Mal). Ich war wund im Inneren, es fühlte sich an, als hätten die Dornen meinen Magen-Darm-Trakt von oben bis unten, an jeder Stelle zerschnitten. Aber es fiel ihm nicht auf, denke ich, er hatte Glasfasern gegessen, sein Speichel war nämlich mit mikroskopisch feinen Glassplittern angereichert. Ich schmeckte es. Ich warf einen schnellen Blick auf seine Zahnkronen, um mich zu versichern, sie blieben unversehrt, und perlweiss, nirgendwo war Blut zu sehen,,,